Lust und Schuldgefühle

Erinnerungen an einen Marathon

Marathon. 42 Stunden ohne Schlaf, ohne Essen , ohne Rauchen. Das ist hart und macht Angst. Aber ich bin zäh und werde ihn mit Zähigkeit durchlaufen. Inzwischen ist dies mein dritter Marathon und ich fühle mich schon ziemlich erfahren nach dem Motto: mir kann nichts passieren.
 
Marathonbeginn um Mitternacht - beste Fetenzeit in Berlin. Während ich noch meine Reisetasche mit Trainingsklamotten packe, registriere ich, da ist nicht mehr die Angst wie die Male zuvor. Vielmehr spüre ich eine Aufgeregtheit in mir wie beim Schminken und Zurechtmachen für ein Fest.
Zunächst beginnt der Marathon mit einer kurzen Gesprächsrunde: Jeder teilt sich mit und spricht von seinen Erwartungen, seinen Anliegen, seinen Ängsten. Das Thema des Wochenendes: Lust und Schuldgefühle. Ich hatte mich für die Lust entschieden, will fun haben und den Beklemmungen (der anderen?) gar keinen Raum geben. In dieser ersten Nacht sollten wir uns begegnen, näher kommen, Klarheit über unsere Schuldgefühle und unsere Lust bekommen.
 
Wir tanzen, dazwischen Umarmungen eng mit z.T. noch fremden Menschen. Sie alle sind hier, um an sich zu arbeiten. Das verbindet. Und schon kommt auch der erste breake: leichte emotionale Arbeiten und Schreibübungen. Das Fest kann beginnen. Gute Leute sind auch dabei, die neugierig machen.
 
In den kurzen Pausen lümmeln wir uns in der Küche zum Tee. Hungergefühle und Rauchgelüste sind vergessen bei soviel Körperlichkeit. Unterschiedlichstes geht den einzelnen durch den Kopf, aber nach außen scherzen wir und flachsen miteinander herum und ahnen nicht, dass alles, auch die Pausen, Teil eines Programms ist. Übermütig verkünde ich, ich wolle die Anführerin einer Lustgruppe sein und werde prompt für die nächsten Stunden beim Wort genommen.
Wir werden in zwei Gruppen geteilt, einer Lust- und einer Schuldgefühlsgruppe. Die Lustgruppe wird zum Bordell und ich zu ihrer Puffmutter, unsere Kontrahenten werden zu einem Kloster mit Nonnen, Mönchen und einem Abt. Wir verkleiden uns unseren Rollen entsprechend, und im Nu beherrscht das Kloster akustisch die Szene mit lautem Wehklagen über unsere Moral, mit geschmetterten Chorälen und übertrieben inbrünstigen Gebeten.
Jetzt merke ich, dass ich viel lieber zu diesem Kloster gehören würde als eine überzeugende Puffmutter darzustellen. Auf einmal erscheint es so schwierig mich sexy zu geben, die Aufmerksamkeit auf meine Attraktivität zu lenken und meine Damen auf Männerfang mitzureißen. Wie viel einfacher haben es da die Klosterinsassen, sich bei unserem Anblick verschämt oder angewidert abzuwenden. Ich war selbst überrascht, wie schwer es mir fällt, die Lust bzw. Bordellmutter zu repräsentieren. Und so kommt es, wie es kommen musste: Das Kloster missioniert uns, unterwirft uns "arme Sünder" und legt uns Reue und Buße tun auf.
 
Die Nonnen und Mönche dürfen von uns allen verlangen, um unser Ego zu zerstören, und ich, als ehemalige Chefin, werde am meisten gepiesackt. Hier erlebe ich eine zweite Überraschung, welche Lust und welchen Spaß ich aus der scheinbar unterlegenen Position für mich entwickle. Ich genieße es, keine Verantwortung zu tragen, das Opfer zu spielen, zu stöhnen und zu leiden, und damit meinen Quälern Schuldgefühle zu bereiten. Es entsteht ein reißendes Chaos. Einer trägt einen Sack mit den Sünden der Menschheit auf seinem Rücken; ein anderer (ehemals Callboy) wird halb nackt als Jesus gekreuzigt. Die Phantasie kennt plötzlich keine Grenzen mehr, unser Klosterleben mit Reue und Buße lebendig und lustvoll zu gestalten.
 
Später schickt uns die Marathonstruktur auf eine Phantasiereise in unsere Kindheit, um uns zu vergegenwärtigen, was wir alles tun, um geliebt zu werden und anerkannt zu sein. Hierbei erinnere ich, wie vieles mir mit Leichtigkeit gelang, wenn es im Trend der Zeit und im Gefallen meiner Eltern lag. Aber selbst Verantwortung zu übernehmen für etwas, dass meinen Eltern und Freunden nicht gefiel, darin tat ich mich schwer. Ich wollte immer die Erlaubnis haben. Hatte ich keine Erlaubnis, dann fühlte ich mich schuldig. Als Bordellmutter hat mir keiner die Erlaubnis gegeben für mein Tun. Ich musste sie mir selbst erteilen, und das fiel mir schwer.
 
Aus der untergeordneten Position den anderen zu kritisieren oder anzuklagen, war mir vertraut. Ich fühlte mich sicher in der Unterlegenheit. Dagegen hat es mich verunsichert, selbst zu bestimmen.
 
Der gleiche Marathon - eine andere Übung: mit der Frage "Was will ich?". In der Reflexion darüber bestätigt sich ein weiteres Mal, wie sehr mein Wille bestimmt ist von dem, was erlaubt ist. Ich will es mir mit niemandem verderben und von allen gemocht werden.
 
Der Tag danach! Ich spüre in mir eine enorme Kraft ohne Angst vor Ablehnung. Ich habe mir ein neues Programm vorgenommen, meine Aufmerksamkeit auf meinen Willen so zu legen, dass er sich unabhängig formen kann.
Ein halbes Jahr und einen Tag danach fühle ich mich immer noch wie ein neuer Mensch, wenn ich nichts durchgehen lasse, was ich nicht hundertprozentig will - zumal ich damit eher Anerkennung erfahre als Ablehnung. Das ist eine der stärksten Erfahrungen von diesem Marathon. Früher habe ich gedacht, dass Marathons stark und machtvoll seien. Jetzt habe ich erfahren, dass ich über so einen chaotischen Marathon an meine Kraft herankommen kann.
 
Ich habe Lust auf Verantwortung bekommen.
 
von Inge